Orgelgeschichten - Verkrampft auf der Orgelbank

"Verkrampft auf der Orgelbank" von Martin Köhm

Text: Martin Köhm
Illustration: Gregor Hinz

Auch nach vielen Jahren auf evangelischen und katholischen Orgelbänken lässt sich eine gewisse Anspannung vor Beginn des Gottesdienstes beziehungsweise der Messe nicht verhehlen. Meistens schaffen einige Minuten der Besinnung gute Abhilfe. Welcher Ort eignet sich dafür besonders? Genau: jener, der auch als das stille Örtchen bezeichnet wird.

Eines Sonntages verbrachte ich dort mehr Zeit, als ich mir vorgenommen hatte. So legte ich den Weg zwischen Gemeindehaus und der katholischen St.-Josef-Kirche in Heide im Sprint zurück, eilte die Treppe zur Orgelempore hoch, als ich die sich öffnende Tür zur Sakristei hörte, die Messe also jeden Moment beginnen musste. Noten für das Vorspiel und das Orgelbuch mit dem ersten Choral waren zum Glück schon aufgeschlagen. Auf dem rechten Ende der Orgelbank platziere ich normalerweise die Choralbücher, die ich gerade nicht brauche. Über diesen beachtlichen Stapel setzte ich halbwegs sportlich, noch den Schwung des vorangegangenen Spurts mitnehmend, das linke Bein. Als das Glöckchen an der Sakristeitür den Beginn der Messe ankündigte, zog ich gerade das rechte Bein nach. Das heißt, ich wollte es nachziehen, stieß dabei aber gegen den Stapel und merkte, dass dieser sich anschickte, zu rutschen und mit einem Lärm auf den Holzboden zu krachen, der das Orgelvorspiel akustisch in den Schatten stellen würde.

Ich klemmte den Stapel mit dem rechten Knie fest, drehte den Oberkörper um 90 Grad zum Spieltisch, ließ mich auf den Hosenboden fallen – und begann dergestalt fast pünktlich mit dem Orgelvorspiel, in höchst unbequemer Haltung, von der allerdings niemand Kenntnis nahm außer meinem Sohn, der mich verwundert aus großen Kinderaugen ansah. Er begriff wohl nicht so ganz, warum sein Vater halb ihm und halb den Noten und Tasten zugewandt war, mit einem angewinkelten Bein krampfhaft auf drei Choralbücher – das katholische Gotteslob besteht aus drei dicken Orgelbüchern und einem weiteren etwas kleineren, das einen lokalen Anhang enthält - drückte und sich dabei noch auf die Lippen biss, weil er selbst über die Situation lachen musste. Den Schlussakkord des ersten Chorals habe ich aber ganz besonders erleichtert gespielt…

Eine Probe, wie es sich angehört hätte, wenn ich die Bücher nicht mehr hätte festhalten können, bekam ich einige Monate später. Die Christmette am Heiligen Abend feierte Kaplan Emeka, ein Gastpriester aus Nigeria. Nach der liturgischen Begrüßung richtete er die ersten Sätze an die Gemeinde: „In meiner Heimat dauert die Messe am Heiligen Abend bis zu drei Stunden.“ Ich hatte währenddessen zwei Orgelbücher tauschen wollen, stieß gegen den Stapel, der diesmal mit beachtlichem Krach auf dem Boden landete – es dürfte sich in der vollbesetzten Kirche angehört haben, als ob auf der Empore jemand in Ohnmacht gefallen wäre. Der Kaplan ließ sich nicht im mindesten aus der Ruhe bringen und fragte nur: „Oh, war das eine Antwort?“ Vielleicht hatte der Zwischen- und Bücherfall aber auch sein Gutes – Herr Emeka kam mit anderthalb Stunden aus.

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