Orgelgeschichten - Die besondere Geschichte von 1970

"Die besondere Geschichte von 1970" von Hinrich Otto Paschen

Text: Hinrich Otto Paschen
Illustration: Volker Sponholz

In der Zeit meiner Selbständigkeit ab 1964 habe ich so manches Orgelbauererlebnis gehabt, doch die Geschichte von 1970 ist heute noch der Höhepunkt von allen.
Für die Bordesholmer Klosterkirche hat meine Werkstatt 1969 eine neue Orgel geschaffen. Ein schöner und schon größerer Auftrag für meinen kleinen Betrieb, der aber noch keinen bekannten Namen in Norddeutschland hatte.

Im Sommer 1970 wurde aus der Klosterkirche ein Rundfunkgottesdienst übertragen. Ich sah eine Chance für günstige Werbung durch die Radioübertragung und hoffte darauf, dass auch der Name des Orgelbauers genannt wird.
Für den sonntäglichen Rundfunkgottesdienst hatte ich mich mit meiner Familie zu einem gemütlichen Frühstück gesetzt und wir warteten auf den Beginn der Übertragung. Pünktlich um 10 Uhr hörten wir voller Spannung die einführenden Worte eines Gemeindesprechers zur Kirche und zum Gottesdienst, aber mein Name wurde leider nicht genannt.

Der Gottesdienst begann mit einem Orgelvorspiel. Die ersten Takte klangen gut und angemessen, aber schon nach wenigen Sekunden sackte die Lautstärke und Tonhöhe der Orgel merklich ab, und meine neue Orgel klang jämmerlich.
Ich war völlig durcheinander und wollte an einen Fehler in der Orgel nicht glauben, deshalb wartete ich bis zum nächsten Einsatz der Orgel, und wieder sackte alles zusammen.
Es musste am Windsystem liegen, denn die Orgel spielt ja, aber eben nur mit zu wenig Winddruck.
Was nun? Ich überschlug schnell, dass ich von Kiel aus in ca. 30 Minuten in Bordesholm sein könnte, denn es war Sonntag und wenig Verkehr auf den Straßen.

Wie ein Wilder raste ich los. Erst in die Werkstatt um den Werkzeugkoffer zu holen, dann weiter zur Klosterkirche. Ständig hörte ich den Gottesdienst im Autoradio.
Damals gab es noch keine Geschwindigkeitsvorschriften für Autos auf den Straßen und Autobahnen, also fuhr ich wie der Teufel und bin tatsächlich nach Ablauf der ersten Gottesdiensthälfte vor der Kirche eingetroffen.
Unten stand der NDR-Übertragungswagen vor der Kirchentür, und von dort verliefen dicke Kabel in die Kirche. Ich gab zu erkennen, dass ich der Orgelbauer dieser Orgel bin, und dass ich das Versagen der Orgel im Radio gehört habe. Die Herren Techniker meinten, dass ich mich da nicht mehr reinhängen soll weil das nur stört, und sie hätten schon im Funkhaus in Hamburg für Ersatzorgelmusik für den Abschluss des Gottesdienstes vorgesorgt.
Trotzdem bin ich zur Orgel aufgestiegen und sah von dort auch die rote Lampe, die „auf Sendung“ anzeigt.

Auf dem Fußboden der Empore saßen alle Chormitglieder und Musiker, denn ein störendes Stühlerücken sollte vermieden werden. Aus dem Kirchenraum war die Predigt zu hören. Am Organisten vorbei ging ich in die Orgel und sah sofort, dass der große Hauptbalg gar nicht mit Wind (Druckluft) gefüllt war. Also war etwas mit dem elektrischen Windmotor, dem Orgelgebläse, nicht in Ordnung. Es schien nicht auf vollen Touren zu laufen.
Diesen Mangel konnte ich aber ausgleichen, indem ich die Verbindungsschnur zum Rollventil, dem Zugangsventil vom Gebläse in den Balg, durch einen eingelegten großen Knoten verkürzte. Und siehe da, der Balg füllte sich mit Wind und ging hoch, und der ursprüngliche Winddruck bestand wieder.
Ich gab dem Organisten mit dem üblichen Daumenzeichen zu verstehen, dass alles wieder in Ordnung ist und er normal weiterspielen könnte. Immerhin war die Predigt noch nicht zu Ende.

Alles schien gerettet. Ersatzmusik aus Hamburg war nicht nötig, und die Gemeinde bekam satten und kräftigen Orgelklang zu hören.
Ich blieb auf der Empore und erlebte die besonderen Bedingungen eines Rundfunkgottesdienstes.
Predigt und Gebet waren zu Ende und Orgelspiel begleitete den Gottesdienst bis hin zur
Schlussmusik auf der Orgel. Der Sender drehte die Lautstärke langsam zurück um den Gottesdienst im Rundfunk ausklingen zu lassen, aber der Organist spielte für die Gemeinde noch ganz normal weiter.
Pünktlich um 11 Uhr erlosch die rote „Aufnahmeleuchte“, und wenige Sekunden danach gab es einen lauten Knall. Der Balg in der Orgel krachte zusammen und die Orgel spielte nun gar nicht mehr. Totenstille und ratlose Blicke überall.
Die Besucher der Kirche standen auf und gingen schweigend hinaus. Der Organist wusste nicht was los ist, schaute mich hilflos an weil sein Spiel so abrupt abgebrochen wurde, ich zuckte mit den Schultern und ging wieder in die Orgel.
Sofort sah ich, dass die zuvor verkürzte Balgschnur gerissen war. Das Rollventil schließt dadurch schlagartig und es fließt kein Wind mehr in die Orgel, sie gibt dann keinen Piep mehr von sich.

Die Radioübertragung ging ja noch ordentlich zu Ende und kein Hörer hat etwas gemerkt, außer von den Anfangsproblemen.
Was war nun passiert? Schnell sind die Personen, die die Rundfunkübertragung technisch abwickeln zum Gespräch mit dem Organisten und mir zusammengekommen.
Ich habe gesagt, dass die „Sendung“ mit dem Versagen der Orgel zu tun haben muss, worauf mir die Techniker sagten, dass in solchen Fällen immer sie, die sie vom „Blindenfernsehen“ sind, die Schuld bekommen. Aber so war es dann auch.
Der Ablauf des Gottesdienstes wurde zuvor geprobt. Die Orgel spielte, der Chor hat gesungen, und Redner sprachen. Alles perfekt, aber nicht unter „Sendebedingungen“!
Als genau um 10 Uhr die rote Sendekontrolllampe aufleuchtete, hat der Übertragungswagen eine Unmenge an Strom aus dem Kirchennetz gezogen, und diesen starken Verbrauch nicht auf die drei Drehstrom-Phasen gleichmäßig verteilt. Folglich ist eine Phase zusammengebrochen und das Drehstrom-Orgelgebläse erhielt keinen Kraftstrom mehr und kam nicht auf die nötigen Umdrehungen.
Das konnte ich dann ausgleichen mit der Verkürzung der Balgschnur.

Als zum Ende des Gottesdienstes die Sendung abgestellt wurde, war der volle Strom plötzlich wieder vorhanden, das Gebläse kam auf volle Touren und lieferte ordentlichen Wind, aber die Balgschnur war nun zu kurz und ist gerissen. Alles krachte zusammen.
Die Rundfunktechniker haben zugegeben, dass sie auf diese Möglichkeit nicht geachtet hatten, und sie empfahlen mir eine Rechnung an den NDR zu stellen. Mit einem Aufschlag von 100% für Sonntagsarbeit tat ich das dann auch.
Und schlussendlich war ich dann doch froh, dass man den Namen des Orgelbauers nicht genannt hat.
Übrigens, 4 Wochen später soll die gleiche Panne bei einem Rundfunkgottesdienst aus einer Hamburger Kirche wieder passiert sein.
Diese Geschichte liegt nun mehr als 50 Jahre zurück und war so von Bedeutung, dass ich heute noch jedes Detail erinnere.
Aus Altersgründen habe ich mich nach dem Bau von 130 Orgeln schon vor längerer Zeit vom Orgelbau zurückgezogen und die Werkstatt an einen langjährigen guten Mitarbeiter übertragen. Der Betrieb läuft auch heute noch sehr gut, und ein Stilwandel im Orgelbau konnte durch den Generationswechsel gut aufgefangen werden. Derzeit bearbeitet mein Nachfolger an Opus 203, und auch er wird sicher die eine oder andere „besondere Geschichte“ als Orgelbauer erleben.

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