Orgelgeschichten - Der 11. August

"Der 11. August" von Barbara Güttler

Text - Barbara Güttler
Illustration - Tim Eckhorst

Der wolkenverhangene 8. Sonntag nach Trinitatis im Jahre 2019 ließ das Innere der kleinen
nordfriesischen Kirche in einem ganz besonderen Licht erscheinen.
Es war mein zweiter Orgeldienst an diesem Vormittag und so betrat ich das Gotteshaus,
eingereiht in einem lockeren Besucherstrom, durch das große Westportal.
Anders fühlt es sich an, wenn man frühmorgens selbst aufschließt, um beim Soundcheck alleine
zu sein und unschuldigen Ohren keine Kratzer zuzufügen.
Heute kam ich mir einen Moment lang vor wie ein Kind, das andächtig staunend von der
biederen Pracht einer sorgfältig vorbereiteten Kirche empfangen und aufgenommen wird.
Die schweren, zylinderförmigen Glaslampen über den Besucherbänken und der Orgel
verbreiteten helles, warmes Licht. Auf dem Mittelgang Richtung Altar ging man durch ein
Lichterspalier, das in den majestätischen Altarkerzen seinen Mittelpunkt und Abschluss fand.
Mehr als nur optisch war man nun angekommen.

Schweigend absolvierte ich mein persönliches Ritual, das stets endete mit einem gedanklichen
„Danke, dass ich hier sein darf“ und „Danke, dass ich spielen darf.“
Heute war noch der Zusatz dabei: „Danke für die schönen Lieder!“
Dann bog ich links ab, um an der Johannus-Orgel mit Blickrichtung Gemeinde und Altarraum
Platz zu nehmen. Vom vorhergehenden Gottesdienst war ich gut eingespielt.
Alles im Lot. Eigentlich ein guter Tag zum Sterben.

Während des Fünf-vor-Läutens ordnete ich mich innerlich noch einmal. Alle Alltagsgedanken
wurden wie eine unwichtige Buchseite umgeblättert. So aufrecht wie möglich setzte ich mich vor
die „Königin“, aber gefühlt auch so tief, als sei ich ein Teil des Musikinstruments.
Zuletzt richtete ich die volle Konzentration auf das Notenblatt, um der Versuchung des
Auswendigspielens nicht zu erliegen.
Nachdem die Glocken an diesem Tag verstummt waren und die ersten Töne des Präludiums in
g-moll erklangen, war ich vollkommen abgetaucht in meine Welt.

Mehr als ein halbes Jahrhundert durfte ich bereits auf der Erde unterwegs sein. Dabei hatte ich
zwangsläufig einige Weltuntergänge miterwartet und mitversäumt, wie die ständig drohende,
weltweite Atombombenkatastrophe im Kalten Krieg. Da die Verrückten auf der Welt nicht weniger
werden, muss es doch irgendeine unglaublich starke Gegenkraft geben, die den gefürchteten
Auslöser des Roten Knopfes bisher verhindert hat. Dafür hat vermutlich jeder eine andere
Erklärung. Meine ist, dass es an der Liturgie liegen muss.
Egal, welche Lieder für einen Gottesdienst ausgewählt werden – der größte Lobgesang ist immer
identisch, ob in F-Dur, Es oder D. Zeitlich leicht versetzt ertönt das Gloria Patri, Kyrie eleison und
Gloria in excelsis an jedem Sonntagmorgen rund um den Globus wie ein gewaltiger Kanon. Ich
stelle mir vor, wie er die dicksten Kirchenmauern überwindet und sich weit hinauf in den Himmel
erhebt.

Wenn der Flügelschlag eines Schmetterlings global gesehen schon einiges anrichten kann oder
der heimlich, still und leise ins Wasser fallende Stein... was mag dann erst die mächtige Liturgie
an guter Botschaft ins Universum aussenden! Im Einklang mit den melodisch und rhytmisch
unterlegten Worten entstehen Schwingungen von ganz außergewöhnlicher und heilender Kraft.
Kurzum: Ich liebe die Liturgie, spiele sie für mein Leben gern, singe sie im Geiste mit und trage
sie im Herzen. Für das „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ suche ich immer die prächtigsten,
strahlendsten Register.
Wie in einer hellwachen Trance schlug ich das Gesangbuch auf. Der Psalm 139 war sehr lang und
so würde ich bis zum „Am Ende bin ich noch immer bei dir.“ mitlesen können, bevor ich mich der
Tastatur zuwenden musste für meinen Einsatz.

Soweit kamen wir aber nicht.
Der Pastor begann mit den linksbündigen Versen und die Gemeinde las die eingerückten Zeilen.
Mit klarer, tiefer Stimme erklang es aus dem Altarraum:
„Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.“
Die Antwort der Gemeinde wurde vom Papierrascheln fast verschluckt, da die Seite im
Gesangbuch demnächst gewendet werden musste und kaum einer den Zeigefinger in weiser
Voraussicht untergebracht hatte. Ich hörte mich selbst lesen:
„Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch. Ich kann sie nicht begreifen.“

Dann fiel ein Schuss.
So zumindest erlebte es die Gemeinde.
Ich durfte als erste erfahren, was geschehen war.
Noch immer saß ich kerzengerade auf der Orgelbank und hielt das Gesangbuch auf beiden
Händen vor mir. Nur, dass ich jetzt von unzähligen Glassplittern in allen Formen und Größen
umgeben war. Ein etwa 15 cm langer Splitter mit der Schärfe eines Dolches lag auf meinem
Gesangbuch.
Der Spieltisch, die Pedalleiste und die Orgelbank waren von nadelspitzen Splittern übersät und
auf dem Massivholzrahmen der Orgel – gut einen halben Meter rechts von mir – zeigte sich ein
deutlicher Abdruck der heruntergekrachten, schweren Glaslampe, die beim Aufprall in tausend
Stücke in alle Richtingen regelrecht explodiert war. Auf meinen Ärmeln und sogar hinter mir
befanden sich Splitter auf dem Holzboden. Aber nicht ein einziger hatte mich verletzt!
Nur meine Ohren dröhnten noch von dem entsetzlichen Knall.

In der Kirche war das Licht ausgegangen, zeitgleich mit dem Herausfliegen der Sicherung.
Nur die Altarkerzen brannten weiter, ruhig, beständig und ohne Flackern.
Und noch etwas leuchtete: Das Lämpchen im Startknopf der Orgel!
Sie war betriebsbereit, denn sie hing an einem anderen Stromkreis.
Vorsichtig entfernte ich mehrere Glasscherben von den beiden Manualen und bugsierte mit der
Zehenspitze ein größeres Stück im Subbass zwischen g und a durch die Ritze, dann meldete ich
mich zurück zum Dienst: „Alles in Ordnung, wir können weitermachen!“
Ich wollte meine Liturgie spielen, jetzt mehr denn je. Nur der Pastor keuchte fast atemlos:
„Aber ich... ich kann jetzt nicht einfach weitermachen...“
In der nun entstandenen Pause nutzte eine Kollegin die Gelegenheit, sich ein Bild von meinem
neu gestalteten Arbeitsplatz zu machen. Andere wechselten die Plätze, da sie sich zufällig direkt
unter eine Lampe gesetzt hatten und nun die Gefahr erkannten. Ich denke, das wäre nicht nötig
gewesen, da rein statistisch gesehen pro Gottesdienst keine zwei Lampen herunterfallen.
Jahrzehntelang hatten diese ihren Dienst treu verrichtet mit dem warmen Licht ihrer uralten
Glühbirnen.

Später erfuhr ich, dass die Abgestürzte nur am Stromkabel aufgehängt war.
Die Installateure des 20. Jahrhunderts hatten offensichtlich großes Gottvertrauen.
Schließlich lasen wir den 139. Psalm noch einmal, ich durfte meine geliebte Liturgie zelebrieren,
der Gottesdienst nahm seinen gewohnten Lauf und ich vertippte mich keinmal.

Mein Schreckmoment erreichte mich erst zuhause beim Mittagessen, als mir schlagartig die
entsetzlichen Möglichkeiten des Vorfalls richtig bewusst wurden. In der Kirche sowie auf der
Heimfahrt funktionierte ich einfach nur. Da befand ich mich in meinem Orgelspiel-Flow.
Auch die sachliche Erörterung, was nun alles auf den Bauausschuss des KGR zukäme, berührte
mich beim Einpacken meiner Noten und Pedalschuhe nicht.
Noch vor der notwendigen inneren Verarbeitung des Erlebnisses erfüllte mich jedoch tiefe
Dankbarkeit für diesen unsichtbaren Schutzschild und meine vollkommene Unversehrtheit.
Natürlich ist der 139. Psalm zu meinem Begleiter geworden und ganz besonders die Worte:
„Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.“

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